„Ich fange an zu zittern …

… und bin glücklich, dass Gott Murugan zu mir kommt“.

Seit zwei Wochen sind wir wieder in Vijayawada, der drittgrößten Stadt in Andhra Pradesh. Beim letzten Aufenthalt haben wir einen Slum näher kennengelernt, in dem die Menschen unter besonders unwürdigen Bedingungen leben müssen. Es sind Migranten aus Tamil Nadu, dem Nachbarstaat, die weder Englisch sprechen, noch die lokale Amtssprache Telegu. Sie haben sich in einem Industriegebiet direkt an einer Straße niedergelassen und ihre Hütten errichtet. Obwohl die Menschen schon seit Jahrzehnten hier „leben“, weigert sich die Stadtverwaltung, Strom- und Wasseranschluss zu legen. Im Gegenteil, sie droht immer wieder mit dem Abriss aller Hütten.

Die Menschen im Slum leben von den „Ausscheidungen“ der Großstadt: Sie sammeln Müll, bereiten ihn auf und verkaufen ihn wieder. Sie sind so etwas wie eine Kläranlage des Industriegebietes, „Putzerfische“ der Industrieproduktion, die es hier überall gibt.

Letzten Montag haben wir zwischen Metallbetrieben, Papiersammelstellen und Kesselherstellern ein Fest erlebt, dass wir hier niemals erwartet hätten. Nicht ein Brahmane, sondern ein Mann vom Krämerladen ist hier der Priester. Eine Frau ohne jede Schulbildung treibt von jedem Bewohner Geld ein und ein Tagelöhner führt die rituellen Handlungen aus.

Um was geht es? Ihr Gott Murugan kann Wünsche erfüllen, dafür müssen die Gläubigen aber ein Gelübde ablegen und „wenn er zu ihnen kommt“, ihm eine besondere Ehre erweisen, indem sie sich zum Beispiel die Zunge durchstechen lassen.

Anjali, eine Teilnehmerin, beschreibt uns den Zustand, wenn Gott Muruga zu ihr kommt so:

„Wir sehen nichts und wir springen. Wir sind wie von Sinnen, so wie betrunkene Leute. Wenn wir springen, kommen vier Helfer und durchstechen die Zunge. Wir fühlen keinen Schmerz.“

Da ist zum Beispiel der 24jährige Rajesh. Sein Schwur lautet, wenn er einen besseren Job bekommt, dann lässt er sich die Zunge durchstechen. Eine junge Frau lässt sich seit vier Jahren die Zunge durchstechen, damit ihre Eltern endlich aufhören, zu trinken.

Für uns rationale Europäer im 21. Jahrhundert ist das befremdlich und einige werden sicherlich nach dem „Trick“ oder einer Uri Geller Lösung suchen. Aber vielleicht geht es gar nicht darum. Vielleicht ist die tiefe Religiosität der Weg der Menschen, um mit den unmenschlichen Lebensbedingungen überhaupt umgehen zu können. Sie glauben eher an Murugan als an den Staat oder die Gesellschaft. Und ehrlich: Ich lasse mir lieber die Zunge durchstechen, als dass ich freiwillig eine Woche unter den Bedingungen in diesem Slum leben möchte. Bei unserem ersten Besuch im Januar hatte eine alte Frau zu Recht gesagt: „Das Leben hier ist die Hölle.“

Uli Schwarz