Ein Kind stirbt

Der Tod des kleinen Mädchens Elamar ist eine Tragödie für die Mutter Dhanalakshmi – und nur eine weitere winzige Änderung in einer Statistik. Aber möglicherweise nicht einmal das, die Mutter wohnt ja „illegal“ in Vijayawada. Das Kind hat also für den indischen Staat gar nicht wirklich existiert.

Das letzte Bild von Elamar mit ihrer Mutter Dhanalakshmi entstand während unserer Dreharbeiten zum Dokumentarfilm Slumgott im April 2010.

Die Leidensgeschichte der kleinen Elamar in ihren letzten Lebensmonaten liest sich wie eine Odyssee durch das indische Gesundheitssystem. Es beginnt mit dem „Medical Camp“, das wir für die Kinder im Slum organisieren. Ein Kinderarzt schaut sich die Kleine an, gibt ein Eisenpräparat und eine Entwurmungstablette. Ansonsten findet der Arzt nichts. Wochen später: Das Schreien des Kindes wird immer schlimmer, es kommt Fieber dazu. Die Mutter geht zu der indischen NGO Care & Share, die uns bei unserer Arbeit im Slum unterstützt. Sie bekommt Tabletten für Elamar. Das Kind scheint sich zu erholen. Dann ein Rückfall und ein kostspieliger Besuch in einem Krankenhaus, der augenscheinlich nichts bringt. Dhanalakshmi entscheidet sich, mit ihrem Kind in ihr Heimatdorf zu fahren, weil sie den Ärzten dort mehr zutraut als denen in den städtischen Hospitälern. Noch während der Busfahrt stirbt das Mädchen. Mit dem toten Kind im Arm fährt Dhanalakshmi zurück in den Slum, wo ein hinduistisches Totenritual gefeiert wird.

Ist das alles eine tragische Verkettung unglücklicher Umstände? Das wäre meines Erachtens zu einfach. Ja, auch bei uns sterben Kinder, ja auch bei uns gibt es Fehldiagnosen, warum nicht auch in Indien?

Aber es gibt gravierende Unterschiede: Bei uns werden Kinder schon während der Schwangerschaft kontrolliert. Nach der Geburt gibt es einen festen Kanon von Vorsorgeuntersuchungen. Da ist es schon etwas schwieriger, eine Hepatitis oder Ähnliches zu übersehen.

Der andere gravierende Unterschied scheint das grundsätzliche Vertrauensdefizit der Slumbewohner in die medizinischen Institutionen zu sein. Wie soll man auch Vertrauen aufbauen, wenn man immer nur als lästiger Bittsteller angesehen wird, der dann auch noch viel Geld für jede Untersuchung und jedes Medikament zahlen muss.

„Stimmt nicht!“, könnte man einwerfen, weil ja die Leistungen im staatlichen Krankenhaus kostenlos sind. Wer aber nicht lesen und schreiben kann, der wird in einer solchen Stresssituation eher Opfer von korrupten Leuten, oder er wird schlechter behandelt, weil er kein Schmiergeld bezahlen kann.

Wenn man in Deutschland von den Halbgöttern in Weiß spricht, dann reflektiert das auch die Unsicherheit vieler Menschen in einer solch existenziellen Ausnahmesituation, in der man den Ärzten und Mitarbeitern im Gesundheitssystem ausgeliefert ist. Wenn das bei uns schon so war oder ist, wie müssen sich dann erst Ravi, Dhanalakshmi und andere Slumbewohner fühlen, wenn sie vor den Krankenhäusern Schlange stehen müssen und ihre schreienden Kinder auf dem Arm tragen?

PS: Elamars Tod hat uns veranlasst für kommende Notfälle einen Fonds einzurichten.

Uli Schwarz und Petra Dilthey